Braucht mein Pferd auf der Koppel Beinschutz oder nicht? Ich bin ein absoluter Befürworter von weniger ist mehr. Meinen Zweifel hat das Pferdekind umgehend angeknabbert.
„Mit dem Verletzungsrisiko muss man leben.“ „Keine Ahnung, wer die Rossnatur erfunden hat.“ „Ein Pferd muss das Pferdsein doch aushalten.“ Ein Thema, viele Meinungen. Kann ich mein Pferd vor jedem Ungemach schützen? Das ist die Frage, die jede Pferdebesitzerin für sich selbst beantworten muss. Solange nichts passiert, hat man die Nase vor der Senkrechten, um es mal so auszudrücken. Doch was tun, wenn sich eine Pause an die nächste reiht, weil das Pferd dauernd ramponiert ist? Mit gesenktem Haupt die Grundsätze über Bord zu werfen kann eine Option sein.
Ich bin eine Verfechterin von weniger ist mehr. Natürlich verwende ich, was sein muss. Ein ordentliches Zaumzeug, gerne ohne Sperrriemen (darüber habe ich schon geschrieben, hier gehts zum Artikel). Eine schöne Schabracke, gerne ohne Hightechunterlage – und wenn schon Unterlage, dann echtes ehrliches Lammfell (kennt jemand eine neuere Studie als die aus der Schweiz, die Lammfell immer noch ganz oben reiht?). Ich reite mit einer einfachen Wassertrense, ohne Hilfszügel und kann das Martingal nicht mehr finden. Das ist ziemlich reduziert. Na gut, ich verwende einen Halsriemen. Der ist besonders praktisch, wenn man ein motiviertes Pferd bremsen will ohne am Zügel zu ziehen, etwa im Gelände. Er gibt aber auch ein Gefühl von Sicherheit, weil ich mich daran festhalten kann – und er ist eine Reminiszenz an meine Jahre in der Vielseitigkeit.
Was den Beinschutz betrifft, weiß man aus Studien, dass er weder Sehnen noch Gelenke maßgeblich schützen kann. Sehr wohl kann die Haut aber vor Abschürfungen und Kratzern geschützt werden. Achtung! Falsch angelegt oder in unpassender Größe kann jeder gut gemeinte Schutz reiben und folglich Druckstellen wie auch Verletzungen verursachen. Ich hatte zudem schon einen verkeilten Ast in einer Beinarterie unter einer Gamasche stecken, der ohne Gamasche nicht da gesteckt wäre. Das Pferd ist nicht verblutet, der Tierarzt hat das Loch mit ein paar Stichen genäht. Es gibt nichts, was es nicht gibt.
Beinschutz lege ich hauptsächlich aus optischen Gründen an. Na gut, auch aus Vorsicht. Manchmal bandagiere ich auch. Nicht, weil ich glaube, dass Bandagen „stützen“, aber weil es ordentlich und gepflegt ausschaut, wenn das Pferd schön herausgeputzt ist. Was auf die Beine gewickelt wird, soll zur Satteldecke passen oder zur Reithose. Oder zu beiden. Bandagieren muss gelernt sein! Elastische Bandagen dürfen nur mit Unterlage zum Einsatz kommen, damit sie nicht einschnüren. Und Bandagen müssen fest genug gewickelt sein, damit sie nicht rutschen (was echt gefährlich sein kann).
TIPP an dieser Stelle: Bandagen sollen stets von einer Person angelegt werden. Das gewährleistet ein annähernd gleiches Druckgefühl auf allen vier Beinen.
Im Sommer bandagiere ich gar nicht. Es ist viel zu warm. Das gleiche gilt für Fellgamaschen, die fast immer Kunstfellgamaschen sind, weil sie so besser zu pflegen sind. Auch sie überhitzen die Beine.
Meine Pferde tragen beim Springen immer Beinschutz und beim Ausreiten oft. Plane ich einen flotteren Ausritt oder sogar Geländesprünge, verzichte ich nie darauf. Meine blauen Neoprengamaschen waren vor 25 Jahren der letzte Schrei. Damals noch aktiv im Turniergeschehen, hatten wir Buschreiter uns die alle zugelegt. Mein zarter Vollblüter trug das Paar, das mein Pferdekind heute an den Vorderbeinen trägt, an den Hinterbeinen. Die Dinger haben sich bewährt, meine Vielseitigkeitspferde hatten fesche (gesunde) Beine und waren ohnehin „fit wie Turnschuh“.
Nun trägt also das Pferdekind die blauen Stutzen. Die Kilometerleistung ist zwar deutlich geringer und die Springleistung ebenso, dafür ist das Verletzungspech proportional immenser. Wir bewegen uns von einer Pause in die nächste, vorwiegend im Schritt. Im Schritt denkt man viel nach. Um also nicht den nächsten Schaden zu riskieren, hatte ich (gegen meine innere Überzeugung) dem Pferd zum Koppelgang vorne Gamaschen angelegt. Ja, die schönen blauen. Das Pferd hat wenig davon gehalten. Ich war wirklich nur sehr kurz weg, aber die Zeit hat gereicht, um die Dinger anzuknabbern. Auf die zerfetzten Therapiegamaschen möchte ich gar nicht weiter eingehen, sie fallen unter teurer Abschreibposten.
Im ersten Moment hat es weh getan. Irgendwie hängen doch Erinnerungen dran, auch wenn man das Gamaschen nur selten zugesteht. „Na gut“, habe ich gedacht, „eigentlich sind wir einer Meinung, das Pferd und ich“. Ein Pferd muss doch die Koppel mit nackten Beinen überleben! Und ganz nebenbei: Für die Pferdepfleger ist das An- und Ausziehen von Gamaschen, Glocken und Co vor und nach dem täglichen Koppelgang ebenfalls eine ziemliche Zumutung. Oder was denkt ihr?
Text und Fotos: Andrea Kerssenbrock, 22.11.22 / Update 23.10.23 (diese Zahlen sind tatsächlich Zufall)