Was bedeutet eigentlich „brav“ beim Pferd? Sicher ist: Brav gilt nicht ein Leben lang.
Die Mutter des Reitschulkindes versteht unter einem braven Pferd eines, von dem ihr Kind nicht runterfällt. Das Kind hingegen versteht unter einem braven Pferd, wenn selbiges macht, was es ihm sagt, egal wie. Wenn es in der richtigen Gangart im richtigen Tempo dahin geht, wo der kleine Mensch im Sattel hin will. Wenn das Pony die Karotte so höflich entgegen nimmt, dass die Finger an der kleinen Hand nicht in Gefahr sind, ist es ein braves Pony. Schnappt es ungeduldig danach oder bringt es beim Reiten das Reitkind – völlig unbeeindruckt von dessen Tränen – an den Rand der Verzweiflung, ist es in Augen des Kindes eher ein blödes Pony.
Mit dem Alter der Kinder ändern sich die Bedürfnisse. Der Teenager mag sein Pferd begabt, hübsch und herzeigbar. Es dient als Knutschkugel bei Kummer aller Art ebenso wie es sich als Schleifenpony am Turnier bewährt. Ein Studium, einen Beruf und eine Familiengründung später sind die Kinder auch schon wieder aus dem Haus. Der Start in ein neues, zweites Pferdeleben beginnt. Wir entdecken das Pferd neu.
Reiterinnen der Zielgruppe 50plus neigen erfahrungsgemäß ebenfalls zum Modell “braves Pferd”. Wir schätzen ein Pferd, das ohne Allüren durch den Wald trabt und elegant übers Viereck schwebt. Dabei verzichten wir gerne auf überragende Exaltiertheit und gelebte Schreckhaftigkeit. Unsere Pferde sollen außerdem bequem zu sitzen sein (die Elastizität nimmt ab einem gewissen Alter der Reiterin ab) und Qualitäten haben, an die wir vor 30 Jahren nicht im Traum gemacht hätten. Statt beim Wettrennen als Erste um die Kurve zu preschen – ein Wunder, dass das immer gut gegangen ist! – wollen wir lieber ein Pferd, das beim Ausritt vorne, hinten und neben den anderen gelassen bleibt. Solche Pferde sind gar nicht so leicht zu finden.
Kumpel mit Temperament
Ein braves Pferd ist ein Verlasspferd, ein Kumpel mit dem man durch dick und dünn reiten kann. Es darf gerne vorwärts gehen, aber nicht zu wild. Wer will schon eine Rakete unterm Hintern? Fein in der Hand, furchtlos im Gelände, angemessen über kleinen Sprüngen und schwungvoll im Dressurviereck soll es sein. Verschmust darf es natürlich auch sein, davon kriegt man nie genug. „Und allerliebst zu Kindern“, ergänzt die Freundin in meinem Alter. „Vielleicht schauen ja mal die Enkelzwerge vorbei“, fügt sie hoffnungsfroh hinzu.
Brave Pferde gehen schön am Zügel und halten den Takt. Sie lassen sich weder aus dem Gleichgewicht noch aus der Ruhe bringen. Mein Pferdekind war ein Naturtalent in Sachen Takt und Haltung. Frech wurde es erst, als es seine Beine sortiert bekam. Aus dem braven Vierjährigen, den im Gelände nichts erschüttern konnte, wurde praktisch über Nacht ein fordernder Halbstarker, der schon mal auf den Hinterbeinen stand. Das hat sich zum Glück nach einiger Zeit wieder gelegt.
Zusammengefasst bedeutet brav, dass ein Pferd für sein Alter, für seinen Ausbildungsstand oder im Vergleich zu anderen Pferden im Stall „brav“ ist. Das muss nicht ein Leben lang so bleiben. Auch Reiterinnen und Reiter definieren brav unterschiedlich. Abhängig vom eigenen Können, vom Alter und den Rahmenbedingungen schätzt man mit den Jahren ein zuverlässiges Pferd. Das Wichtigste sei aber, dass es dem Pferd gut geht, betont meine Freundin, die reitende Großmutter. Dafür nimmt sie selbst als Best Agerin noch den einen oder anderen Freudensprung ihrer Stute gelassen hin, denn: “Hauptsache, die Karotte schmeckt und das Pferd ist gesund!”
Text: Andrea Kerssenbrock
Foto: © Daiga Ellaby by unsplash