Now reading
Erbgut Flucht

Erbgut Flucht

Vom Fotografieren und fehlender Gelassenheit im Erbgut des Pferdes.

Zufällig haben diese Woche mehrere Fotografen aus der Deckung heraus fotografiert. Das ist unterschiedlich gut angekommen. Der Schimmel in der Reitschule hat die Raubtierhaltung des Fotografen eher skeptisch eingeschätzt. Zum Glück hatte der Reiter die Situation gut im Griff. Der Reisejournalist tags darauf wusste es nicht besser. Er hat sich ganz unbefangen sehr knapp vor dem Pferd positioniert. Das hat dem Hengst so gefallen, dass er eine richtig tolle Nummer abgezogen hat. Ich freu mich schon auf die Fotos!

Froh war ich, als die Tochter der Freundin gar nichts mitbekam von meinem Schreck. Die Stute war konzentriert und darum äußerst pflichtbewusst. Als die Freundin mit der Kamera hinter der Hecke auftauchte, geschah – nichts. Es gibt auch andere Tage. Da macht die Stute auf dem Absatz kehrt und überlässt den Menschen dem hungrigen Löwen zum Fraß. Wir wissen: Das Pferd ist Pflanzenfresser, ist Fluchttier. Seinem Feind hilflos ausgeliefert – Löwe, Tiger, Wolf, Fotograf. Was halt so lauert hinter Bäumen und Hecken. In geduckter Haltung, bereit zum Angriff, entschlossen zum Sprung.

Sind Pferde vielleicht gar nicht so schlau wie wir jenen, die Pferde für dumm halten, stets weismachen wollen?

Wir wissen außerdem: Pferde sind Meister der Körpersprache. Auch im Lesen menschlicher Körpersprache. Ich finde, sie könnten längst einen größeren Anteil an Gelassenheit im Erbgut haben. Doch trotz Domestikation und überragender sozialer Kompetenz – das Pferd ist und bleibt ein Fluchttier. Und während also heute mein XYpsilon zuhause geblieben ist, um das Zeitalter der Säugetiere zu pauken und sich mit den Vorläufern unserer Pferde auseinanderzusetzen (morgen Bio-Test), habe ich wie in alten Reitlehrerzeiten Verhaltenskunde im Pferdestall betrieben.

Die Stute hat sich das angehört und mich zum Glück nicht bloßgestellt. Gelegentlich reagiert sie nämlich auch auf Menschen, die sich entspannt bewegen, richtig verhalten und auch ganz passabel reiten, also an sich pferdekundig sind – heiter bis hysterisch. Sie mag etliche Stimmen nicht. Ja, Stimmen. Und nein, nicht Stimmungen. Vielleicht ist es aber auch beides. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.

 

Text: AvK  | Foto: © Melissa Chabot